Ich hatte die Ehre, auf der Verleihung der Abiturzeugnisse meiner Tochter die Ansprache der Eltern zu halten. Und da diese Abiturrede (natürlich) auch die Pfadfinderei berührt, kann man sie hier gerne nochmal nachlesen.
Mein Name ist Stephan, und ich bin ein Nerd.
Ich bin ein Nerd, und zwar nicht erst seit Serien wie „The Big Bang Theory“ das Nerd-Sein akzeptabel, ja vielleicht sogar ein bisschen cool gemacht haben. Ich war schon ein Nerd, als es im Deutschen noch gar kein Wort dafür gab; als man für seine Begeisterung für Computer, Mathe oder Fantasy-Rollenspiele schief angeguckt oder belächelt wurde.
Aber keine Angst, das soll hier keine Abrechnung meiner missverstandenen Jugend werden (und so schlimm war es am Ende auch nicht) – hier soll es gar nicht um mich gehen. Hier geht es um Euch, liebe Abiturientinnen und Abiturienten. Warum erzähle ich euch also von Nerds? Ich erzähle euch das, weil Nerds Eines können, das ich jedem von euch wünsche. Und nein, damit meine ich nicht, die Fähigkeit, das WLAN Passwort am Router eurer Eltern zu ändern. Dafür gibt es inzwischen eine App.
Wir Nerds können uns begeistern; begeistern für Sachen die uns wichtig sind. Egal, was bei den anderen gerade angesagt ist. Wir brennen für Fantasy-Romane, Filme, Serien, Musik, einen Fußballverein, Physik oder Chemie, fürs Programmieren, deutsche Literatur oder Philosophie, Leichtathletik oder Skaten. Und mit “Brennen” meine ich nicht, dass wir diese Sachen so irgendwie ganz nett finden.
Ich meine reine, grenzenlose Begeisterung, die uns vieles andere vergessen lässt. Diese Leidenschaft ist es, die uns in den Augen der anderen merkwürdig erscheinen lässt. Weil wir uns ernsthaft darüber streiten können, ob nun „Star Wars“ oder „Star Trek“ das bessere Science-Fiction Franchise ist (und ganz ehrlich, das steht ja wohl außer Frage). Oder statt abzuhängen, lieber Zeit in Mathe-Camps, Theaterproben, Schülerzeitungsredaktionen oder Trainingslagern verbringen.
Wenn du ein Nerd bist – sei es mit Stolz. Wenn du noch kein Nerd bist – werde einer. Begeistere dich! Stürze dich mit Leidenschaft auf dein nächstes Ziel – wenn du ein solches hast. Und wenn nicht, suche dir eins, das deine Begeisterung verdient. Das muss nicht „das große Ziel“ sein. Auch die kleinen Ziele verdienen Begeisterung. Und wenn du genug Ziele mit genug Leidenschaft verfolgt hast, wird vielleicht ein Weg daraus, der dich weit bringen kann.
Während meiner Schulzeit am Nachbargymnasium habe ich viele Jahre neben meinem Mitschüler Olli aus Brachelen gesessen. Olli war kein Nerd im klassischen Sinne. Aber: Olli ging jedes Wochenende zu den Spielen der lokalen Fußballmannschaften und schrieb in den Lokalzeitungen über die aktuellen Entwicklungen im Abstiegskampf der Kreisliga C. Victoria Katzem gegen den SV Holzweiler – das war seine Welt. Von uns allen belächelt – was für ein Nerd!
Doch die Geschichte endet nicht damit. Auch heute berichtet Olli immer noch über Fußball. Allerdings nicht von den Spielen von Sparta Gerderath in der Kreisliga C. Olli machte seine Begeisterung zu seinem Beruf. Nach einem Studium der Politikwissenschaften und einigen weiteren Zwischenstationen, wurde Olli irgendwann Redaktionsleiter des Aktuellen Sportstudios des ZDF. Und wenn ihr in den nächsten Wochen ein WM-Spiel seht, das von „Oliver Schmidt“ live im ZDF kommentiert wird, denkt daran, dass mit genug Begeisterung manchmal ein Weg vom Ascheplatz bis zum Maracanã führt.
Doch genug über Nerds. Denn ich bin natürlich nicht nur Nerd, ich bin auch Pfadfinder. Mancher denkt jetzt sicherlich: Fast das Gleiche! Vielleicht – auf jeden Fall auch abseits des Mainstreams.
Der Engländer Lord Robert Baden-Powell, von uns Pfadfindern kurz BiPi genannt, gründete vor über 110 Jahren die Pfadfinderbewegung, um junge Menschen in ihrer körperlichen, geistigen und spirituellen Entwicklung zu fördern. Heute sind über 40 Millionen Kinder und Jugendliche Pfadfinder, und es gibt Pfadfinder in fast allen Staaten der Erde.
Allen Pfadfindern und Pfadfinderinnen gab BiPi 3 Pflichten mit auf den Weg – “duties”, die auch heute noch eine große Rolle spielen. Der Pfadfindergruß, mit drei ausgestreckte Fingern – ihr kennt ihn aus den „Tribute von Panem“ – versinnbildlicht diese 3 Pflichten. Ebenso die drei Blütenblätter der Lilie, die viele Pfadfindergruppierungen in ihren Abzeichen verwenden. Diese drei Pflichten möchte ich euch heute ebenso ans Herz legen.
Duty to Self
Erstens – „the duty to self“: Die erste Pflicht gilt zunächst euch selbst.
Mancher in eurem Abiturjahrgang mussten leider schon am eigenen Leib erfahren, dass Gesundheit keine Selbstverständlichkeit ist, und dass man sein Schicksal nicht immer in den eigenen Händen hält. Anderes wiederum haltet ihr in euren Händen:
- Umgebe dich mit Menschen, Freunden, Familie, Partnern, die dir guttun, die dir beistehen, wenn es dir auch mal nicht gut geht und du diesen Beistand benötigst!
- Treibe Sport (und das gilt besonders für die klassischen Nerds unter euch) –du hast nur diese einen Körper! Und wenn der dir die nächsten 60 oder 70 Jahre, die du statistisch gesehen mindestens noch vor dir hast, gute Dienste leisten soll, dann braucht er Pflege. Und: Mens sana in corpore sano – Sport hält nicht nur körperlich fit, er beugt auch psychischen Erkrankungen vor.
- Überhaupt geistige Gesundheit: euer Jahrgang war der erste an dieser Schule, der mit G8 im Ganztag umgehen musste. Schule spielte in eurem Leben eine so große Rolle, wie bei niemandem an dieser Schule zuvor. Dabei blieb vieles andere auf der Strecke. Für Freizeit, Freunde, oder auch einfach fürs Nichtstun hattet ihr oft weniger Freiraum als alle Schüler vor euch an dieser Schule. Dabei sind diese Dinge so wichtig, um ausgeglichen zu bleiben, und nicht mittelfristig in ein Burn Out zu steuern. Nehmt euch Zeit für euch – für Freunde, Hobbies, fürs Nichtstun. Egal ob in Studium oder Beruf.
Aber warum kümmert mich das? Schließlich ist es doch so: „Ich kenne die Hälfte von euch nicht halb so gut, wie ich es gern möchte, und ich mag weniger als die Hälfte von euch auch nur halb so gern, wie ihr es verdient.“ (Extrapunkte an die „Herr der Ringe“-Nerds, die das Zitat erkannt haben.) Also, was sollen die guten Ratschläge?
Duty to Others
Nun, die zweite Pflicht der Pfadfinder ist nämlich die „duty to others“. Die Verpflichtung euren Mitmenschen gegenüber.
Unsere Gesellschaft braucht euch. Und damit meine ich nicht nur, dass in 35 Jahre die meisten Schlüsselpositionen in Staat und Wirtschaft mit Menschen eurer Generation besetzt sein werden. So wichtig diese Positionen sind – die Wahrscheinlichkeit, dass eine zukünftige Vorstandsvorsitzende eines DAX-Unternehmens oder ein zukünftiger Bundeskanzler hier vor mir sitzt, ist eher gering. (Aber lasst euch von mir nicht erzählen, was ihr mal sein könnt und was nicht. Ich hätte auch nie gedacht, dass Olli es mal bis ins Maracanã bringen würde.)
Vielleicht genauso wichtig für unser Miteinander sind all die Menschen, die mit ihrer ehrenamtlichen Arbeit unsere Gesellschaft mitgestalten. Vor mir sehe ich also nicht nur die Ärztinnen und Juristen, Ingenieurinnen und Lehrer, Bankerinnen oder Kaufleute der Zukunft. Ich sehe vor mir auch die Fußballtrainer und Jugendleiterinnen, Feuerwehrfrauen und Rettungssanitäter, Parteiaktivisten und Gewerkschafterinnen, Stadträtinnen und Schöffen, Flüchtlingshelfer oder Chorsängerinnen der Zukunft. Unsere Gesellschaft braucht euch, braucht euer Engagement um lebenswert zu bleiben.
Und darum liegt mir euer Wohlergehen am Herzen: Damit ihr die Kraft und die Möglichkeit habt, die Gesellschaft zu gestalten, in der ich einst alt und meine Enkel an eurer Stelle sind.
So wichtig eure berufliche Zukunft auch ist – ihre werdet sehen: Engagement im Ehrenamt zahlt sich aus. Natürlich für all die Mitmenschen, die ihr mit eurem Ehrenamt berührt. Aber auch für euch selbst. Weil ihr dort den Umgang mit Menschen lernt, der euch auch im Beruf weiterbringt. Und weil ihr da Ausgleich habt zum Stress im Beruf. Die Anerkennung, die euch trägt, wenn es im Beruf oder im Privaten auch mal nicht so läuft. Und einfach, weil ihr da was erlebt, was über euren Alltag hinausgeht. Um es mit BiPi zu sagen: „Ohne Abenteuer wäre das Leben sterbenslangweilig.“ Sucht das Abenteuer!
Duty to God
Die dritte Pflicht schließlich ist die „duty to god“ – die Verpflichtung Gott gegenüber. Da ich nicht an Gott glaube, habe ich mich mit dieser Pflicht zunächst eher schwergetan. Inzwischen habe ich aber meine Lesart gefunden, die ich euch mit auf den Weg geben möchte.
Für mich bedeutet die Plicht gegenüber Gott, mich den großen Fragen des Lebens zu stellen: Was macht ein gutes Leben aus? Was eine gerechte Gesellschaft? Wer oder was gibt meinem Leben einen Sinn? Was geschieht nach unserem Tod? Gibt es einen Gott? Und was will er für unser Leben?
Diese Fragen sind so alt wie die Menschheit. Und sie sind es wert, gefragt und hinterfragt zu werden. Stellt die Fragen, die über euren Alltag, ja über euer Leben, hinausweisen. Und sucht eure eigenen Antworten. Gebt euch nicht mit den Antworten zufrieden, die euch „gegeben“ wurden. Diese Fragen wollen von jedem wieder neu gestellt, neu erörtert, die Antworten neu gefunden, diskutiert und erstritten werden. Die Antwort auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest steht in keinem Buch und sie lautet wahrscheinlich auch nicht 42.
Bei den Pfadfindern ist es üblich, dass man für Errungenschaften oder als Erinnerung an große Lager einen Aufnäher bekommt, den man dann auf seine Pfadfinderkluft näht und stolz herumzeigt. Wir haben für euch auch so einen Aufnäher entworfen, als Erinnerung an eure Schulzeit und für die Errungenschaft des Abiturs. Neben eurem Abi-Logo ist auf dem Aufnäher übrigens auch die Pfadfinder-Lilie zu sehen. Sie möge euch mit ihren 3 Blüten vielleicht manchmal an die 3 Pflichten erinnern.
Bevor ich zum Ende komme, möchte ich noch ein kurzes Wort des Dankes an eure Lehrer richten, die euch die letzten Jahre begleitet haben. Vielen Dank! Für viel Engagement und Zeit. Vor allem aber für die Momente, in denen Ihre Begeisterung übersprang. Ich hoffe, diese Momente helfen auch Ihnen, Ihre Begeisterung für das Lehren am Leben zu halten, auf dass Ihr Funke noch auf viele Schüler überspringen kann!
Schließen möchte ich mit einem Wort eines großen Nerds. In März verstarb Steven Hawking, der wahrscheinlich berühmteste Astrophysiker unserer Zeit. Als er 20 Jahre alt war, wurde bei ihm ALS diagnostiziert, eine Krankheit, die ihn schließlich in den Rollstuhl zwang, und die es ihm schließlich unmöglich machte zu sprechen.Dennoch ließ er sich nie von seiner Begeisterung abbringen, verstehen zu wollen, was unser Universum zusammenhält. Von ihm stammt das folgenden Zitat, dass ich euch abschließend mit auf den Weg geben möchte:
„Seht hinauf zu den Sternen und nicht hinab zu euren Füßen. […] Seid neugierig, und wie schwer auch immer das Leben scheinen mag, so gibt es doch immer etwas, das ihr tun und worin ihr erfolgreich sein könnt. Es kommt darauf an, nicht aufzugeben.“
In diesem Sinne: Alles Gute für eure Zukunft!
Die Inspiration für einen Teil dieser Rede verdanke ich dieser hervorragenden Ansprache von Tim Minchin: